„Es gibt eine Notwendigkeit für Theologie,
die auch dann noch besteht,
wenn kein Gesellschaftszustand mehr religiöse Bedürfnisse erzeugt
und kein Mensch mehr theologische Fragen stellt.
Denn Theologie hat ihren Grund im lebendigen Gott,
der als Vater, Sohn und Geist ein volles und das heißt auch:
ein erkennendes Leben führt,
an dem er von vornherein Menschen beteiligt.“
(Fr.-W. Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik, München 1988)
Auf der Internetseite einer kleinen Kirchengemeinde eine Rubrik „Theologie“?
Brauchen wir heute überhaupt Theologie? Gibt es für Kirche und Glauben gar eine innere Notwendigkeit für so etwas wie „Theologie“?
Und was hieße es für diesen Glauben, wenn seine theologische Formulierung und Denkbarkeit sich im vermeintlichen oder auch offenkundigen Gegensatz zu allen anderen Zeitströmungen befände?
Oder könnte gerade dieser Befund die Notwendigkeit von Theologie begründen? Also: Weil der Glaube heute derart in die Isolation abgedrängt wird, benötigt er Theologie, den Versuch, sich unter den Bedingungen von Hier und Jetzt selbst zu denken?
Aber es bleibt auch die keineswegs naive Frage etwa aus der Ökumene: Warum reicht es dem christlichen Glauben nicht, diesen einfach, praktisch und konkret zu leben? Warum will Glaube sich selbst verstehen, auslegen und interpretieren, statt schlicht praktiziert zu werden?
Warum will der Glaube sich denken, statt nur zu glauben?
I.
Nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Kirche selbst scheint sich ein Antiintellektualismus schleichend auszubreiten: In Sachen Glauben, Religion oder Frömmigkeit gehe es doch vor allem um Gefühle und nicht um Wissen, Erkennen und Denken.
Daneben läßt sich ein heidnisch-philosophischer Agnostizismus beobachten, der gern die generelle Unmöglichkeit Gott zu erkennen konstatiert. Beide Strömungen befördern nun einen spezifischen christlichen Agnostizismus, der mit Rückzug ins Private und Bürgerliche antwortet, der nur noch subjektive Gewißheit kennt und so die Wahrheit, die der Glaube der Welt zu bezeugen hat, verloren hat.
„Die einen sagen jetzt: Gott ist unerkennbar, ja, es ist nicht einmal erwiesen, ob es ihn gibt. Bald wird man sagen Gott ist tot! Und auf der anderen Seite die Christen, die ihn jetzt nur noch ‚für sich‘ auferstehen lassen, für sich ‚existieren‘ lassen, die aus dem pro me der Reformatoren ein ‚nur pro me‘ machen, die darum die Welt der Gottlosigkeit überlassen und sich in die selbstgemachte Welt religiöser Vorstellungen und Wünsche flüchten.“ (1) So der Theologe Hans Joachim Iwand (1899-1960) in seiner noch immer überaus nachdenkenswerten Vorlesung „Glauben und Wissen“.
Damit kritisiert Iwand in der Stärke und Kraft seiner Sprache die bis heute beliebte und kaum hinterfragte Rede von „meinem Glauben“, meinem eigenen (!) persönlichen usw. Glauben, auf den es schließlich ankomme, der in Vikariatskursen und Pfarrerfortbildungen geradezu exhibitionistisch zur Schau und zur Diskussion gestellt wird. Das vorrangige Interesse an diesem „meinem“, „persönlichen“ Glauben, meinen individuellen Glaubenserfahrungen, gebärdet sich heute zudem meist antiintellektuell, diskreditiert damit theologische Lehre und scheint längst jeden Wahrheitsanspruch aufgegeben zu haben. Denn jeder hat nun eben „seinen“ Glauben.
„Der Glaube ist abgesunken ins Subjektive, der einzelne steuert seinen Nachen durch ein tiefes Meer voller Abgründe, er lebt davon, daß er glaubt. Der Glaube lebt von sich selbst! … Es ist die Frage, ob der Glaube in dieser Isolierung auf sich selbst verharren darf, ob er damit sich beruhigen darf, daß er seiner selbst gewiß ist und daß er durch sich selbst seiner gewiß ist.
Es ist die Frage, ob wirklich unsere Begriffe und infolgedessen auch unsere Worte nicht weiter reichen als unsere Vorstellungen, sodaß Gott, Offenbarung, Wahrheit, Wort, Geist usw. nichts anderes sind als Zeichen, ‚termini‘, um uns miteinander … zu verständigen.
Nicht nur unter uns, sondern auch mit denen, die vor uns waren. Denn dann sind wir in der großen menschlichen Retorte Gott gegenüber eingeschlossen. Er ist draußen und wir sind drinnen, er ist objektiv und bei uns ist alles subjektiv, wir tasten uns entlang an den Wänden unseres Gefängnisses und verständigen uns durch Klopfzeichen mit unseren Nachbarn oder entziffern Inschriften, die die Gefangenen vor uns hinterlassen haben, - aber dieses große menschheitliche Miteinander in Raum und Zeit, also in Gegenwart und Geschichte, ist durch eine Voraussetzung bestimmt, daß der, von dem wir reden, oder besser das, wovon wir reden, also die Wahrheit, das Leben, die Wirklichkeit, mit einem Wort: Gott nicht faßbar ist, daß er sich nicht mit uns ins selbe Gefängnis begeben, daß er nicht mit uns in einer Sprache gesprochen, daß Gott seine Transzendenz eben nicht durchbrochen habe.“ (2)
Nach Iwand benötigt der Glaube also das Erkennen, bedarf der Glaube der Theologie, „um die Wahrheit Gottes frei zu machen von dem Parteigängertum der Gläubigen, als ob auf ihnen, auf ihrer Sicht der Dinge die Wahrheit gegründet wäre, die sie bezeugen.“ (3)
„Du bist Christus. Der Glaube darf diesen Satz nicht in sich zurücknehmen, nicht in Reflexion verwandeln. Er darf nicht sagen: ‚das bist du ‚nur‘ für mich! das ist nur eine Glaubensaussage‘, sondern mit dieser Aussage betritt der Glaube den Boden der für alle – Glaubende und Nicht-Glaubende – geltenden Wirklichkeit (Röm 16,25; Kol 1,26)“ (4) und Wahrheit.
In diesem Sinne könnte man wohl sagen: Theologie lebt vom Bekenntnis. Oder etwas vorsichtiger und mit Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928 – 2002): „Das Bekenntnis steht vor seiner dogmatischen Auslegung.“ (5)
Eine offenbar fundamentale Versuchung besteht in der irrigen und fatalen Überzeugung, daß die Wahrheit der Sache der Kirche und Theologie abhängig sei von ihrer öffentlichen Anerkennung und ihrer allgemeinen Plausibilität. Statt dessen gilt es wohl immer neu und ringend zu verstehen, daß die reformatorische Erkenntnis der Rechtfertigung jeden Menschen dazu ermutigt, „daß er die Möglichkeit hat, Wahrheit auch gegen die Mehrheit zu denken.“ (6)
II.
So soll auch auf der Internetseite einer kleinen Gemeinde über theologische Fragen nachgedacht werden. In loser Folge sollen hier Vorträge, Aufsätze und Predigten oder einfach Lesefrüchte zum Nachlesen und Nachdenken dargeboten werden.
Der theologischen Erkenntnis, daß der zur Welt gekommene Gott nicht nur der Gegenstand des Glaubens, sondern zugleich sein Ermöglichungsgrund ist, entspricht das Gebet als erste Tat des Glaubens, in welchem der Theologe sich festlegt, daß der Gegenstand seiner Arbeit zugleich der einzige Grund seines Lebens ist, der ihn trägt: „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: welcher ist Jesus Christus“ (1. Kor 3,11).
„Wohlan, jetzt also, Du mein Herr-Gott, lehre mein Herz, wo und wie es Dich suche, wo und wie es Dich finde. ...
Lehre mich Dich suchen und zeige Dich dem Suchenden; denn ich kann Dich weder suchen, wenn Du es nicht lehrst, noch finden, wenn Du Dich nicht zeigst.“ (7)
Michael M. Schönberg
(1) H. J. Iwand, Glauben und Wissen, in: Glauben und Wissen, hg. v. H. Gollwitzer, NW I, München 1962, 36.
(2) Ebd., 93.
(3) Ebd., 34f.
(4) Ebd., 52.
(5) Fr.-W. Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik, München 1988, 35.
(6) W. Mostert, Sinn oder Gewißheit? Versuche zu einer theologischen Kritik des dogmatistischen Denkens, Tübingen 1976, 151.
(7) Anselm v. Canterbury, Proslogion, 1. Kap., Lat.-dt. v. P.F.S. Schmitt, Stuttgart 1962, 75ff.